Seite II von "Schreikinder.com"

 

Dr. rer. soc. Marc J. Dressel
Dipl. Psychologe u.
Psychologischer Psychotherapeut

 

 

 



  

 


wpe52.jpg (1675 Byte)

 

 

wpe41.jpg (1678 Byte)



Das Tor zum Leben


Die Erklärung, warum Säuglinge „so schreien“, beginnt an folgendem, allseits bekannten Ausgangspunkt. Das Leben eines Menschen beginnt im Leib der Mutter. Sofern nicht irgendwelche schädlichen Reize stören, sind die Bedingungen für den werdenden Menschen ideal. Optimale Wärme, ständige Versorgung mit Nährstoffen und ein geeignetes Milieu sorgen dafür, dass der Embryo sicher und geschützt zu einem kleinen Menschlein heranwächst. In diese idealen Bedingungen wächst die Psyche, spirituell gesehen die Seele, des Kindes hinein. Es besteht eine intrauterine symbiotische Einheit mit dem Organismus der werdenden Mutter. Die tiefenpsychologische Forschung vergleicht diesen Zustand mit der Erfahrung von tiefem Frieden, Ruhe, Heiter- und Glückseligkeit. Auch wenn das heranwachsende Menschenkind aufgrund der zunehmenden Größe schließlich nicht mehr im Fruchtwasser „schwerelos“ schwimmen kann, bleibt das Kind im guten sicheren Schoss der werdenden Mutter. Wie bedeutungsvoll und eindrücklich dieses Sein die Psyche des werdenden Kindes formt, kann man nur erahnen.

Dieser, man möchte fast sagen, paradiesische Zustand findet schließlich sein jähes Ende durch das Einsetzen der Geburt. Das intrauterine Milieu ändert sich schlagartig. Die einsetzenden Wehen und manchmal auch der Blasensprung leiten die Eröffnungsphase der Geburt ein. Die Psyche des Kindes erlebt quasi ein Erdbeben. Die Welt, an dem sich das Kind geschützt und sicher entwickeln konnte, wird unaufhaltsam zu einer Bedrohung. Die Kontraktionen der Gebärmutter erzeugen auf mechanische Weise einen massiven Druck auf den Körper des Kindes. Das Gehirn des Kindes ist bei einer termingerechten Geburt strukturell entwickelt. Man kann davon ausgehen, dass das Kind auf die beginnende Geburt emotional voll reagieren kann und reagiert.

Nachdem durch diese enorme Kraftanstrengung der Gebärmutter und den dadurch erzeugten Druck der Kopf des Kindes den Muttermund geöffnet hat, wird das Kind durch Wehen, also periodisch anhaltende Kontraktionen der Gebärmutter, im Geburtskanal vorangetrieben. Der starke mechanische Druck führt zu Verformungen der Kopfknochen des Kindes, das Becken der Frau wird geweitet. Die Röhre, durch die das Kind hindurchgeschoben wird, ist bedingt durch den Bau der Beckenknochen der Mutter eng, sehr eng. Der Stress des Kindes und das emotionale Erleben erreicht seinen Höhepunkt.

Jeder Geburtskanal hat ein Ende. Ich möchte fast schon sagen "Gott sei Dank". Geht alles gut, enden die packenden Erlebnisse für Mutter und Kind schlagartig, und eine plötzliche und unerwartete Erleichterung stellt sich in ein. Das Kind beginnt reflexartig den ersten Atemzug und die Atemwege entfalten sich. Die Luft der ersten Atemzüge ermöglicht das erste Schreien. Mir gefällt das Bild diesen Zustand mit dem Ende einer langen Reise zu vergleichen. Das Menschenkind ist angekommen und „auf der Welt“.

Immer wenn ich mich damit beschäftige, bin ich aufs Neue von der Dramatik einer Geburt beeindruckt. Die Intensität und die emotionale Dichte dieses Vorgangs ist bleibend. Bei Mutter und Vater dauert die emotionale Verarbeitung des Erlebten Wochen, wenn nicht Monate. Und das Kind? Wenn man sich den Geburtsvorgang aus der Sicht des Kindes vorstellt, dann ist eines mit Sicherheit klar: Das Kind ist einer dramatischen, ja mit Sprache kaum fassbaren Veränderung seiner Lebensbedingungen ausgesetzt. Der Geburtsvorgang als körperlicher Prozess ist für das Kind lebensbedrohend und löst starke Angstgefühle aus. Insbesondere bei einem schweren Geburtsverlauf, bei dem das Kind über 10 und mehr Stunden den Geburtskanal nicht passieren kann, die Gebärende in einen Zustand der körperlichen Erschöpfung gerät, bei dem die Sauerstoffversorgung über die Nabelschnur im Verlauf eingeschränkt ist und schließlich aufgrund der akuten Lebensgefahr für das Baby eine Zange angesetzt oder ein Notkaiserschnitt notwenig wird, ist die Gefahr ein Traumatisierung einfach nachvollziehbar. Erwachsene Menschen, die ähnlichen lebensbedrohenden Situationen und ähnlicher entsetzlicher Hilflosigkeit ausgesetzt waren, sind traumatisiert. ...

 

Literatur:

Grof S. (2002). Topographie des Unbewussten.
Klett-Cotta.

Rank, O.. (1988). Das Trauma der Geburt.
Fischer

Nicht jede Geburt verläuft derart unglücklich, aber die überstandene Geburt –„Das Tor zum Leben“ - bedeutet für jeden neugeborenen Menschen, dass er einem Zustand von intensiver Furcht und Hilflosigkeit ausgesetzt war. Die erlebte Enge und der mechanische Druck sind lebensbedrohende Ereignisse, die entsprechende emotionale Reaktionen nach sich ziehen. Je nach dem Geburtsverlauf können wir von einer mehr oder weniger ausgeprägten psychischen Belastungssituation bzw. Traumatisierung ausgehen.


Das "andere Schreien" und die Geburt


Die psychotherapeutische Praxis zeigt, dass traumatische Ereignisse periodisch erinnert werden und zu wiederkehrenden heftigen emotionalen Reaktionen führen. So als ob das Ereignis noch einmal durchlebt wird. Der Unterschied zwischen dem realen Ereignis und der wiederkehrenden Erinnerung verwischt dabei für den Patienten. Die wiederkehrende Erinnerung ist eine typisch menschliche Reaktion auf emotional bedeutsame Ereignisse. Unser Kalender mit seinen vielen Feiertagen symbolisiert deutlich, dass dies auch kulturell tief verankert ist.

Die Parallele zum periodisch auftretendem abendlichen oder nächtlichem Schreien ist offenkundig. Das Kind entäußert dabei seine tiefgreifende emotionale Anspannung, weil es seine Geburt quasi noch einmal durchlebt. In diesem Sinne kann das "andere" Schreien der Säuglinge als emotionaler Ausdruck und als Reaktion auf die periodisch wiederkehrenden Erinnerungen an die Erlebnisse während der Geburt verstanden werden.


Unsere Einzelfallstudie


Wie bereits oben berichtet, stießen wir auf diese Erklärung durch die Konfrontation mit unserer eigenen schreienden Tochter. Zum einen waren wir von dem atemberaubenden massiven Schreien völlig erstaunt. Derartige emotionale Ausbrüche mit Darmkoliken oder Übermüdung zu erklären erschien uns wenig plausibel. Zum anderen konnte man praktisch jeden Tag die Uhr danach stellen. Pünktlich um kurz vor 21 Uhr begann sie heftigst zu schreien und zu weinen. Auch wenn sie Augenblicke vorher noch ruhig und unbekümmert war. Der kleine Körper geriet in völlige Aufregung. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und phasenweise lief sie knallrot an, weil sie zu erregt war, um Atem zu holen. Dieser Zustand hielt in etwa 2h an. Dann kehrte eine gewisse Beruhigung ein, der dann durch Stillen und Ruhe unterstützt ein sehr tiefer Schlaf folgte. Das Kind war körperlich völlig erschöpft und ausgepowert.

Wie gesagt war die zeitliche Regelmäßigkeit auffällig. Warum immer um kurz vor 21 Uhr? Dann stellte sich ein AHA-Erlebnis ein. Die Geburt unseres Kindes begann mit einem plötzlichen Blasensprung und schnell einsetzenden Wehen. Und jetzt raten Sie bitte mal, wann der Blasensprung war? Ganz genau, um kurz vor 21 Uhr.

Ein weiterer Hinweis ergab sich, als ein befreundetes Ehepaar aus der Nachbarschaft vom Schreiverhalten ihrer kleinen Tochter berichtete. In den ersten 3 Monaten schrie dieses Kind nahezu pausenlos. Die Geburt war äußerst schwierig gewesen. Nach mehr als 18 h Stunden Wehen wurde das Kind mit einer Zange auf die Welt geholt. Mittlerweile suchen wir im Gespräch mit jungen Müttern immer zu erfahren, wie die Geburt und wie heftig das abendliche bzw. das nächtliche Schreien war. In der Regel bestätigt sich dabei die Vermutung, dass es zwischen der Heftigkeit des Schreiens und der Heftigkeit, der Dauer sowie dem Zeitpunkt der Geburt einen positiven Zusammenhang gibt.


Die Gültigkeit


Wir sind uns natürlich bewusst, dass die oben dargelegte Erklärung für das abendliche oder nächtliche Schreien wissenschaftlich gesehen nicht mehr als eine Hypothese darstellt. Uns sind auch keine Studien bekannt, die diese Frage bereits untersucht haben. Ältere psychoanalytischen Überlegungen von Otto Rank sowie die tiefenpsychologischen Forschungsarbeiten von Stanislaw Grof unterstreichen die Bedeutung der Geburtserlebnisse für die Entwicklung der menschlichen Psyche.

Uns persönlich hat diese Erklärung aber geholfen unser Kind zu verstehen, und unser Verhalten dem Verhalten unseres Kindes anzupassen. Wir glauben jetzt zu wissen, was diese extremen emotionalen Ausbrüchen bedingt. Und wir habe für uns einen Weg gefunden diesem Schreien stimmiger zu begegnen. Denn die Aufforderung die mein Kind mir durch ihr Schreien vermittelt lautet weiterhin: „stehe mir bei“!

Eine Beschreibung, wie Eltern diesem Schreien angemessen begegnen können, finden Sie hier.

 

 

- Diese Seite wurde zuletzt am 05.01.18 aktualisiert.