Seite III von "Schreikinder.com"

 

Dr. rer. soc. Marc J. Dressel
Dipl. Psychologe u.
Psychologischer Psychotherapeut

 

 

 



  

 


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Der Umgang mit dem nächtlichen Schreien


Wie beschrieben erklären wir uns das unspezifische "andere" Schreien der Säuglinge damit, dass es dabei um die Verarbeitung und die emotionale Reaktion auf die periodisch wiederkehrenden Erinnerungen an die Geburtserlebnisse geht. Diese Erlebnisse sind in gewissem Sinne für jedes Kind als traumatisch zu bezeichnen. Betonen möchten wir, dass es sich um ungesteuerte emotionale Reaktionen handelt. Zu einer rationalen, bewussten und oder auch lösungsorientierten Verarbeitung ist der Säugling nicht fähig.

Ausgehend von diesem Erklärungsmodell geht es bei diesem "anderen Schreien" nicht um die Befriedigung körperlicher oder sozialer Bedürfnisse. Es geht nicht um die Befriedigung von Hunger oder Müdigkeit. Es geht nicht um die Befriedigung von Einsamkeit oder die Herstellung von körperlicher Nähe. Das Motiv für das Schreien ist die psychische Reaktion auf die Erinnerung an die Geburt. Jede Geburt eines Kindes und auch seine emotionale Reaktion während des Geburtsvorgang sind individuell. Somit verläuft auch die emotionale Reaktion auf die wiederkehrenden Erinnerungen bei jedem Kind anders. Bestimmende Faktoren sind der Grad und die Ausprägung von Furcht, Hilflosigkeit, Entsetzen oder auch Todesangst, mit denen das Kind auf den Prozess der Geburt emotional reagiert hat sowie die psychische Konstitution des Kindes.

In diesem Sinne laufen die Eltern mit ihrem Drang etwas zu tun, damit das Kind aufhört zu schreien quasi „gegen den Baum“. Die Eltern können nichts tun, um die Bedürfnisse des Kindes zu "stillen", weil es ein solches stillbares Bedürfnis nicht gibt.


Das Kind halten


Den heutigen Generationen der Uromas und Omas wurde, wie wir erfahren haben, empfohlen das Problem mit der sogenannten vier Stunden Regel zu lösen. Der Säugling wird alle vier Stunden versorgt, gestillt und gewickelt. Danach geht es in der Regel wieder ins Bett. Dem Schreien an sich sollte aufgrund erzieherischer Vorstellungen wenig Aufmerksamkeit gezollt werden. Wir denken und hoffen aber, dass die Generation der Omas und Uromas diesem Ideal dann doch nicht gerecht werden konnten. Unserer Ansicht nach ist das "schreien lassen" und den Säugling z.B. im Kinderzimmer alleine zu lassen, oder wie ich von einer Kollegin gehört habe, das Kind im Kinderwagen in die Garage zu versorgen, immer nur die zweitbeste Lösung. Wir gehen davon aus, dass diese Praxis nicht mehr den Vorstellungen entspricht, die die meisten der heutigen Eltern haben. Diese Lösung geht gegen das innere Empfinden vieler Eltern dem Kind beizustehen.

Es gibt eine Lösung für das paradoxe Problem etwas tun zu wollen und nichts tun zu können. Dies setzt aber voraus, dass ich mich selber emotional voll in die Beziehung zu meinem Kind einbringen will und kann. Und ich muss dafür Zeit haben. Diese Lösung heißt "Halten" oder entsprechend der englischsprachigen Herkunft "holding".

Dieses Halten des Säuglings beinhaltet dabei folgende innere Haltungen.

§          Ich akzeptiere, dass ich nichts tun kann, um das Kind zu beruhigen.

§          Den Gefühlsausbrüchen des Säuglings bringe ich unbedingte Wertschätzung entgegen.

§          Ich halte den Säugling im Arm, und bin körperlich und emotional einfach da.

Diese Art dem Kind zu begegnen verfolgt also nicht den Vorsatz für Beruhigung zu sorgen. In seiner emotionalen Not biete ich dem Kind meine Nähe und mein „da sein“. Die Botschaft lautet: „Ich weiß, dass Du gerade in höchster Not bist, und ich bin da für Dich, Du bist nicht allein“! Der Haltende oder die Haltende haben keine Lösung und bieten keine Lösung an. Die Haltende oder der Haltende hält das Kind im Arm, auf dem Bauch oder auf dem Rücken liegend. Den Bewegungen des Kindes setzt er sanften Widerstand entgegen, ohne das Kind mit Kraft zu sehr einzuengen. Die Haltestellung an sich soll beibehalten werden.

Das Halten zielt darauf ab das Kind in seinem emotionalen Erleben und in der emotionalen Verarbeitung der Geburtserlebnisse zu begleiten. Die Dauer des Haltens hängt dabei vom Erleben und Verhalten des Säuglings ab. Die praktische Übung zeigt, dass nach einer gewissen Zeit, bei uns waren es 1h bis 2 h, sich eine Beruhigung und Entspannung beim Kind einstellt. An manchen Abenden schien unsere Tochter jedoch durch das Schreien so erschöpft, dass sie aus der Erschöpfung und Übermüdung heraus weitergeweint hat. Dazu folgende Beschreibung aus der Sicht der Mutter: „Dann konnte ich sie durch Herumtragen, an die Brust anlegen etc. beruhigen. Mit der Zeit entwickelten wir ein Gespür, um welche Art des Schreiens es sich handelte und wann sie Hilfe brauchte, sich wieder zu beruhigen“. ...

 

Literatur:

Casriel D. (1975). Die Wiederentdeckung
des Gefühls.
Bertelsmann Verlag

Ein Kind in der beschriebenen Form zu halten ist alles andere als einfach. Insbesondere entstehen bei der Haltenden Person mit der Dauer der Aktion Gefühle, die am eigenen Verhalten zweifeln lassen. Denn, das Kind schreit weiter, und insgeheim erwarte ich, dass es aufhören soll und muss. Entsprechende Gedanken wie „mache ich es richtig?“ oder „es ist alles falsch?“ gehen mit dieser Verunsicherung einher. Diese Reaktion nennt man im psychotherapeutischen Sprachgebrauch Gegenübertragung, und hat mehr mit mir selber, als mit dem Kind zu tun.Eine mögliche Deutung dieser eigenen Reaktion ist, dass wir als Haltende unbewusst genau spüren und wissen, was das Kind gerade psychisch durchlebt. Wir waren vor Jahren in der gleichen Situation, wir tragen die Erinnerungen an unsere eigene Geburt in uns. Diese eigenen psychischen Anteile schlummern gut verwahrt in uns. Durch die Konfrontation mit dem schreienden Kind können entsprechende Gefühle unliebsam bewusst werden. Deshalb sollte man das Halten beenden oder den Partner um die Ablösung bitten, wenn die eigene wohlwollende Haltung, z.B. durch heftige Wutgefühle oder Hilflosigkeit, nicht aufrecht erhalten werden kann.


Welchen Zweck verfolgt das Halten?


Die Frage nach dem Zweck des Haltens ist sicher auch kritisch zu stellen. Was soll das zeitraubende und mühselige Halten des Kindes, wenn ich es damit eh nicht beruhigen kann? Unsere Antwort stellt das Thema Bindung in den Blickpunkt. In den ersten Monaten entwickelt sich ein Bindungsverhalten zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen. Dieses grundlegende Beziehungsmuster bildet die Basis für den Umgang mit anderen Menschen auch im Erwachsenenalter. Die Bindungstheorie soll hier nicht weiter vertieft werden (dazu gibt es umfangreiche Literatur), aber als Elternteil ist man wohl immer bestrebt, dem eigenen Kind das Ideal der „sicheren Bindung“ zu ermöglichen. Unsere persönliche Meinung, auch aufgrund eigener Selbsterfahrung ist, dass Halten als therapeutische Technik bei der Arbeit mit Erwachsenen ein sehr effektives Mittel ist, um problematische Bindungsmuster positiv zu verändern. Wer sich eingehender über Holding oder Bonding bei Erwachsenen informieren möchte, findet u.a. im Buch von Casriel (1975) die entsprechende Literatur.

In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass das Halten des schreienden Säuglings ein guter Weg ist, eine sichere Bindung zum Kind herzustellen. Ich biete als haltende Bezugsperson durch meine körperliche Verfügbarkeit Sicherheit. Ich versuche nicht das Kind aktiv zu beruhigen, weil ich davon ausgehe, dass das Kind das Bedürfnis hat zu schreien. D.h., ich stelle nicht mein Bedürfnis („endlich Ruhe“) über das Bedürfnis des Kindes („schreien“). Ich bringe den Gefühlsausbrüchen des Säuglings unbedingte Wertschätzung entgegen (Stichwort: Validierung), d.h., ich akzeptiere das emotionale Erleben des Kindes. Ich bin für das Kind als „Du“, als Gegenüber, verfügbar und wir beide gehen zusammen durch diese, emotional für beide schwierige Phase, hindurch.

Abgesehen von diesen sehr theoretischen Ausführungen dient das Halten als stimmiges praktisches Werkzeug. Ich habe endlich eine klare Antwort, warum mein Kind so weint und schreit. Diese Wissen entlastet mich als Elternteil. Und ich weiß, was ich tun kann bzw. was ich nicht ändern kann. Der Drang etwas zu tun, um die Bedürfnisse des Kindes zu "stillen", und die damit verbundenen Schuldgefühle und die damit verbundene Hilflosigkeit , sind besser auszuhalten. Und aus eigenem Erleben können wir sagen, dass bei unserer Tochter nach einigen anstrengenden Abenden bzw. Nächten mit Haltearbeit eine allmähliche Veränderung zu verzeichnen war. Das konstante Schreien wurde irgendwie anders. Das beeindruckend pünktliche Auftreten verschwand. Es gab weiterhin Abende mit intensiv anhaltenden Schreien, aber eben auch andere Abende. Das Schreien fiel völlig aus oder war nach 20 Minuten beendet.

Diese Ausführungen über ein schwieriges Elternthema abschließend möchten wir noch anmerken, dass bei aller dargestellter Problematik und häufiger Verwendung der Wortes „Trauma“, die emotionale Verarbeitung der Geburt nur ein Aspekt der großartigen Herausforderung „Elternschaft“ ist. Ein Kind zu bekommen ist ein Wunder. Und wie alle Dinge im menschlichen Leben gibt es neben dem vielen Schatten auch viel Licht. In der Regel hört das abendliche oder nächtliche Schreien nach dem 3. Lebensmonat auf. Die meisten Schreikinder hören dann auf „so“ zu schreien. Neuropsychologisch betrachtet ist davon auszugehen, dass die fortschreitende Reifung des Gehirns dann eine bessere Kontrolle der emotionalen Reaktionen durch höher gelegene Strukturen ermöglicht. Man könnte auch umgangssprachlich sagen, dass die rasante Entwicklung der Psyche des Kindes wohl dazu führt, dass die  Geburt dann „verarbeitet“ ist und andere Dinge wichtig werden. Oder aber, wie unsere Hebamme unterstützend sagte, „da muss eben was raus“, und vielleicht dauert das seine Zeit, bis es „raus ist“.

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- Diese Seite wurde zuletzt am 05.01.18 aktualisiert.